Den Körper schreiben: Trans* Narrative 

aus Brasilien und Argentinien

Post-Doc Projekt an der Universität zu Köln (2021-2023)

Die Begriffe, die im Zusammenhang mit queeren Personen verwendet werden, kommen oftmals aus Europa oder den USA und funktionieren im globalen Süden häufig nur in begrenztem Maße. US-amerikanischen Konzepten stehen oftmals lokale (Selbst-)Bezeichnungen entgegen, wie die folgenden Beispiele zeigen: queer vs. cuir/cuyr; gay vs. guei; sissy vs. bicha, viado/maricón, marica; trans vs. travesti/trava. Seit einigen Jahren gibt es deshalb eine breite Debatte zur Dekolonisierung der Queer Studies (vgl. Colling 2015; Pereira 2019; Pierce 2020; Trávez et al. 2021 sowie Márquez 2022) und teilweise auch der Trans Studies (vgl. Aizura et al. 2014). Da die Diskussionen um queere Methodiken und Epistemologien häufig in den Geschichts- und Sozialwissenschaften stattfinden, bleibt zunächst unklar, wie sich die Literaturwissenschaft in diesem Feld positioniert. Zwar gibt es zahlreiche Studien im Fach, die auf Gender oder Queer Studies zurückgreifen, diese fokussieren allerdings vorrangig auf Feminismus (vgl. Kilian 2004 sowie Lanser/Warhol 2015) und männliche Homosexualität (vgl. Foster 1991 und Ingenschay 2009).

Ein ernsthaftes Zusammendenken von Trans Studies und Literaturwissenschaft im Kontext des globalen Südens hat bisher – von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Moira 2018; Berlim/Marques 2019 sowie Chaves 2021) – kaum stattgefunden. Das geplante Forschungsprojekt möchte diesem Desiderat Rechnung tragen und befragt daher eine Vielzahl literarischer Texte aus Brasilien und Argentinien auf die Konstruktion transgeschlechtlicher Körper einerseits sowie auf die Konstruktion literarischer Textkörper, die über Transgeschlechtlichkeit berichten, andererseits. Das Ziel ist eine kritische Revision der Begriffe sowohl der Queer Studies, als auch der Literaturwissenschaft.

Als Hauptkriterium für die Zusammenstellung des Korpus wird darauf geachtet, dass die analysierten Texte von trans* Personen verfasst wurden und über trans* Personen berichten. Dabei wurde schon jetzt deutlich, dass sich diese Sammlung in vier große Bereiche unterteilen lässt: 1. Texte, die eher autobiographisch konzipiert sind und als Autobiographie vermarktet werden. Zu nennen sind hier exemplarisch Mi recordatorio von Malva (2011) und Meu corpo, minha prisão von Loris Ádreon (1985). 2. Texte, die jene Eigenschaften bedienen, die üblicherweise dem Genre der Autofiktion zugeschrieben werden. Als Beispiel seien die beiden Texte El viaje inútil von Camila Sosa Villada (2018) und E se eu fosse pura von Amara Moira (2016) genannt. 3. Texte aus dem Bereich der Autotheorie, unter anderem Travesti: Una teoría lo suficientemente buena von Marlene Wayar (2018) und A reinvenção do corpo von Berenice Bento (2021), sowie 4. experimentelle Texte, für die die klassische Literaturwissenschaft keine Begriffe mehr bereitzustellen weiß. Dies trifft – neben einigen weiteren Beispielen – auf Poemario trans pirado von Susy Shock (2011) und auf Trans radioativa. Você me conhece porque tem medo ou tem medo porque me conhece? von Valeria Barcellos (2020) zu. Die Einteilung wirft zahlreiche Fragen auf, um die das Erkenntnisinteresses des Projekts kreist. Einerseits betrifft dies die Rolle der Verlage und die von dort gesteuerte Vermarktung der Bücher: Worin unterscheiden sich Autobiographie und Autofiktion ästhetisch und inhaltlich? Ist eine trennscharfe Zuteilung zu einem der beiden Genres überhaupt möglich oder kommen in diesen Fällen traditionelle wissenschaftliche Kategorien an ihre Grenzen? In diesem Zusammenhang sind Fragen um Faktizität und Fiktizität zu verhandeln (vgl. Depkat 2019). Die Diskussion um literaturwissenschaftliche Taxonomien betrifft auch den zweiten Bereich des Korpus und damit den zweiten Teil des Erkenntnisinteresses. Je stärker konventionelle Genres gemischt und subvertiert werden, desto schwerer fällt eine literaturwissenschaftliche Einordnung der Texte. Dies betrifft bereits Texte, die in jüngster Zeit vermehrt als „autotheoretisch“ bezeichnet werden (vgl. Hidalgo 2013, Zwartjes 2019; Wiegmann 2020 sowie Fournier 2021), vielmehr sind hier aber Texte zu nennen, die sich jeglicher Klassifikation entziehen und damit den ordnenden Zugriff der Literaturwissenschaft unterwandern.

Text und Inhalt bedingen sich hier gegenseitig: Auch die Identitätsentwürfe und die Körperlichkeiten, die in den Texten beschrieben werden, entziehen sich oftmals machtvollen Diskursen und stellen diesen stattdessen etwas Eigenes, Neues und Subversives entgegen. Meine These lautet, dass eine chronologische Entwicklung innerhalb des Korpus beobachtet werden kann: Während ältere (autobiographische und autofiktionale) Texte stärker darauf bedacht sind, sich in ein Mehrheitsnarrativ einzuschreiben und deshalb einerseits mit literarisch konventionelleren Mitteln arbeiten und andererseits Personen präsentieren, die eine Transition innerhalb des binären Geschlechtersystems anstreben/vollziehen, brechen die späteren/neueren Texte zunehmend mit diesen Erwartungshaltungen: Sie präsentieren Protagonist*innen, die sich einer eineindeutigen geschlechtlichen Zuschreibung selbstbewusst entziehen und entwickeln neue Arten, über diese zu schreiben. Schreiben meint hier jedoch nicht nur das literarische Schreiben (Textproduktion), sondern auch das Einschreiben geschlechtlich kodierter Merkmale in den Körper (Körperproduktion/körperliche Praxis). Interessant ist, dass sich auch die Vermarktungskanäle bei dieser zweiten Gruppe ändern und anstatt traditioneller Vertriebswege (große Verlagshäuser etc.) verstärkt alternative Kanäle erprobt werden (Selbstdruck, Kooperativen, digitale/virtuelle Bereitstellung etc.).

Der literaturwissenschaftlichen Analyse werden Interviews mit einigen Autor*innen zur Seite gestellt, in denen diskutiert werden soll, ob der in den Texten vollzogene Bruch mit geschlechtlichen Taxonomien einerseits und literarischen Taxonomien andererseits bewusst herbeigeführt wurde und wodurch er motiviert war. Dass es sich bei diesem Bruch auch um einen Bruch mit Paradigmen handelt, die europäischen, aufklärerischen Normierungstendenzen entstammen, bei denen vernunftbasierte Wissensproduktion, Stringenz und Klarheit als zentrale Leitlinien fungieren, erscheint nicht zufällig. Abschließend soll im Rahmen des Projekts daher diskutiert werden, inwiefern aktuelle Texte brasilianischer und argentinischer trans* Personen sowie deren Publikations- und Vermarktungsstrukturen an eine posthumanistische Agenda anknüpfen, indem sie Alternativen anbieten zum Binarismus, Anthropozentrismus und Individualismus humanistischer Prägung.

Die gewählte Methode vereint Methoden der Decolonial Studies und der Queer Studies und wendet sie auf die Literaturwissenschaften an.  Ein zentraler Schnittpunkt ist dabei der machtkritische Zugang, insofern als dass Sprache als machtvolles Instrument verstanden werden soll, das über Benennung und Normierung einschränkend wirkt. Dies betrifft sowohl die Terminologie, mittels derer über die betreffenden Körper gesprochen und geschrieben wird, als auch die Begriffe, die herangezogen werden, um die entsprechenden Texte zu analysieren und zu klassifizieren. Gleichzeitig steht das Projekt in unmittelbarer Nähe zu etablierten literaturwissenschaftlichen Debatten um Genre (vgl. u.A. Wagner-Egelhaaf 2019 sowie Gradinari 2020), Polyphonie (vgl. u.A. Roggenbuck 2020) und Paratext (Genette 2001). Wie bereits erwähnt, werden einer kriteriengeleiteten Lektüre leitfadengesteuerte Interviews zur Seite gestellt, die mittels grounded theory ausgewertet werden sollen, mit dem Ziel, implizite Epistemologien aufzudecken und zu prüfen, in welcher Beziehung sie zu bestehenden, lokalen Epistemologien stehen. Dies ermöglicht einerseits einen queeren Blick auf lateinamerikanische dekoloniale Theorie und andererseits einen dekolonialen Blick auf queere Lebenswelten in Lateinamerika, stets mithilfe literarischer Texte.

Das Projekt ist inhaltlich innovativ, da es sich Texten zuwendet, die bisher nur wenig beforscht sind (Literatur brasilianischer und argentinischer trans* Personen) und die bestehende Genregrenzen überschreiten (von der Autofiktion zur Autotheorie und darüber hinaus). Gleichzeitig liefert es der Literaturwissenschaft als akademische Disziplin neue methodische Impulse hinsichtlich der Frage, wie ausgehend von der körperlichen und schriftstellerischen Erfahrung der Autor*innen eine geeignete Theorie und Terminologie entwickelt werden kann, um diesen Texten gerecht zu werden. Im vorliegenden Kontext könnten Konzepte wie „trananarchistisches Schreiben“ (vgl. Herman 2015), „monströses Schreiben“ (vgl. Pierce 2020) oder „posthumanistisches Schreiben“ (vgl. Braidotti 2022) geeignete Ansätze sein, was jedoch im Rahmen des Projekts einer genaueren Analyse bedarf.

Aus dem Projekt hervorgegangene Publikationen